Analyse

Nr. 23-2 aktualisiert 27.10.2023 Lesedauer: min

Und womit belügen Sie sich?

Sustainability, Metriken, Labels, ESG – geht es um das Bekämpfen des Klimawandels, wartet auf die Interessierten ein veritabler Dschungel. Vor lauter Lösungen vergessen wir manchmal die eigentliche Problemstellung – und was sie mit uns zu tun hat.

Schafft es die Welt nicht, ihre CO2-Emissionen dramatisch zu reduzieren, wartet in ein paar wenigen Jahrzehnten eine ungemütliche Zukunft auf uns: Hitzewellen, Dürren, vermehrte Naturkatastrophen und – ach, das wissen Sie natürlich schon. Vermutlich haben Sie diesen Artikeleinstieg gefühlt tausend Mal gelesen. Vielleicht ärgern Sie sich gerade auch ein bisschen darüber. Selbstverständlich ist Ihnen der Klimawandel gewahr – und die damit assoziierten Zäsuren und Prognosen, die notwendigen politischen, ökonomischen, ökologischen Handlungszweige und sowieso alles andere. Schliesslich lesen Sie ja gerade einen Artikel in einem Sustainability-Briefing!

Die Bekämpfung des Klimawandels ist beschlossene Sache, wenngleich nicht ganz klar ist, wann dieser Beschluss genau gefällt wurde, wann das Klima als Traktandum zuoberst auf die globale Agenda gerückt ist. Denn gewarnt wurde schon lange. Spätestens 1972, als der «Club of Rome» sein Papier «Die Grenzen des Wachstums» publizierte. Wann diese Warnung angekommen, wann der Klimawandel in den Fokus gelangt – oder immer noch dabei ist –, wann «es», die grosse Ökokatastrophe, passieren wird – das sind Abstrakta, mit denen wir uns kaum aufhalten mögen. Wir befinden uns in einem Prozess.

Ja, das passiert gerade wirklich!

Im Film «Children of Men» von Alfonso Cuarón ist die Welt nur noch ein unfruchtbares Ödland. «Die Katastrophe in «Children of Men», schreibt der Kulturtheoretiker Mark Fisher über ebendiesen Film, «ist weder absehbar noch ist sie bereits eingetreten. Vielmehr wird sie durchlebt. Es gibt keinen pünktlichen Moment der Katastrophe; die Welt geht nicht mit einem Knall zu Ende, sie blinkt aus, löst sich auf, fällt allmählich auseinander». Für Fisher ist dieser Film eine politische Zeitdiagnose. Wir halten die Katastrophe für etwas, was in der Zukunft liegt, etwas, was aus der Ferne dräut, etwas, was auf uns zukommt, irgendwann. Für Fisher ist aber klar: Die Katastrophe geschieht bereits um uns herum.

Fisher sagt auch: Eigentlich unterdrückt die Gesellschaft den Klimawandel und seine Folgen auf dieselbe Art, wie Menschen psychische Traumata verdrängen. Das scheine zwar angesichts der Allgegenwärtigkeit des «Grünen Themas» auf den ersten Blick vermessen, die Art und Weise, wie man damit umginge, offenbare aber, wie sehr es auf einer «Fantasiestruktur» beruhe. Kurz: Der Klimawandel geschieht gerade tatsächlich, wir aber verlassen uns auf jene Anlagen und Ordnungen, die in der Vergangenheit bereits nicht funktioniert, sondern sogar zweifellos geschadet haben. Oder, wie es der amerikanische Künstler und Dichter Kenneth Goldsmith formuliert hat: «The world runs on smart. It’s clearly not working» – «Die Welt basiert auf ‘klug’. Es funktioniert offensichtlich nicht».

Die Vermutung: Eine Überabhängigkeit von vorhandenen ökonomischen und technologischen Werkzeugen, die nicht nur eine bestenfalls zweifelhafte Bilanz haben, sondern auch Ausdruck eines bestimmten Denkens sind, das die Akzeptanz bestimmter Prämissen voraussetzt.

Ein Beispiel: Viele Vertreter der Idee von «Green Growth» und Ökomodernisten – und wohl so mancher Durchschnittsbürger – gehen von der Vision aus, Gesellschaft und Wirtschaft sollen weiter wachsen können, während die CO2-Emissionen reduziert werden. Die sogenannte ökologisch-ökonomische Entkopplung hat sich bisher aber als Sackgasse erwiesen. So hat eine Meta-Analyse von 180 Studien im Jahr 2020 ergeben, dass es «keine Evidenz für die Art der Entkopplung gibt, die für die ökologische Nachhaltigkeit erforderlich ist» und dass «in Ermangelung robuster Evidenz das Ziel der Entkopplung teilweise auf Glauben beruht».

Woran glaubst du?

Obschon dieses Ergebnis an sich bereits signifikant ist und aufrütteln sollte, wird es erst im letzten Teil des Satzes richtig spannend: Auf welchen Glaubenssätzen beruht die Entkopplungsidee? Welche Denkschemata leiten uns? Weshalb glauben wir woran – gerade im Angesicht überwältigender wissenschaftlicher Evidenz?

Die Antwort klingt trivial. Wir sind Menschen, nicht einfach rationale, roboterhafte Akteure. Wesen, die vergessen, verdrängen, sich über- oder unterschätzen, die sich manchmal felsenfest davon überzeugt geben, obwohl sie es, wären sie ehrlich zu sich selber, gar nicht so genau wissen.

Dass diese Antwort gar nicht so trivial ist, zeigt zum Beispiel der Philosoph Robert Pfaller. Mit seinem Konzept der «Interpassivität» hat er auf eine bemerkenswerte Eigenschaft der menschlichen Psyche hingewiesen: Wir neigen dazu, bestimmte Handlungen, Emotionen und Verantwortungen an andere Personen oder Objekte zu delegieren, um uns selbst von der Last ihrer Bewältigung zu befreien – selbst bei Dingen, die wir eigentlich als lustvoll empfinden. Das geschieht nicht immer bewusst und ist oft tief in unseren sozialen Handlungsmustern verankert. Zusammengefasst: Wir übertragen unsere eigene Aktivität auf Objekte oder andere Menschen, und tun dabei so, als wären wir selbst aktiv, während wir in Wirklichkeit passiv bleiben.

Das populärste Beispiel: Das automatische Gelächter in TV-Sitcoms – hier lacht jemand an unserer Stelle, so, dass wir es nicht tun müssen, und uns dennoch befriedigt fühlen. Oder Menschen, die Bücher kaufen, sie aber nur ins Regal legen, delegieren das Lesen an ein Büchergestell. Menschen, die riesige Sammlungen an mit dem Videorekorder aufgenommenen Sendungen besitzen – den Genuss des Schauens aber dem Rekorder und dem Fernseher überlassen. Oder Nationalmuseen, die kaum besucht werden, gerade weil man weiss, die eigenen Kulturschätze jederzeit anschauen zu können. Damit dieser Akt gelingt, so Pfaller, imaginieren wir uns eine dritte, unsichtbare Person, die an unserer Stelle an den interpassiven Akt glaubt. Und gerade weil es bei der Interpassivität um Lust und Last geht, lässt sich die Psyche gern von ihr verführen.

Der Fernseher lacht für dich und der Bio-Apfel rettet das Klima

So wie wir das Lachen in der Sitcom an den Fernseher delegieren, delegieren wir die Lösung des Klimawandels an Biolabels oder Energieffizienzmetriken, an Green Finance, an Gebäudestandards, an Papierstrohhalme. Gerade weil all diese Instrumente bereits Teil unseres persönlichen und gesellschaftlichen Kosmos sind, sich in die bereits existierenden neoliberalen Strukturen einfügen, funktioniert das so gut. Das beobachtet auch Mark Fisher. Er nennt das «kapitalistischer Realismus», die Tatsache, dass die Wirkungsweisen und Ordnungen des kapitalistischen Wirtschaftssystems als so fundamental und unveränderbar wahrgenommen werden wie Naturkonstanten.

Der Glaube und die Hoffnung, dass technologische und herkömmliche ökonomische Werkzeuge uns aus der Klimakrise befreien können, entlastet uns nicht nur von der Verantwortung, unsere Lebens- und Wirtschaftsweisen grundlegend zu überdenken, sondern auch vom Schmerz und der Kränkung, eine lang gehegte Illusion aufgeben zu müssen. Stattdessen erlaubt uns die Interpassivität, uns am Nahen festzuhalten. Das ist selbstverständlich nicht zwingend ein Problem – wir leben schliesslich mit einem Haufen Phantasmen, die unsere persönliche Realität konstituieren, wie der Psychoanalytiker Jacques Lacan einmal konstatierte. Der Schluss liegt hier darum nahe, dass der Klimawandel eben nicht ein rein technisches Problem ist, es kann nicht einfach eine lockere Schraube angezogen werden. Nein, es ist auch ein menschliches Problem und wie wir mit der Krise umgehen, hat umfassend damit zu tun, wie wir uns in der Welt verorten.

Der ketzerische Investmentbanker und die Jetsetterin

Das hat auch Tariq Fancy begriffen, ausgerechnet ein Investmentbanker, der es bis zum CIO of Sustainable Investing beim Finanzgiganten Blackrock gebracht hat. Gegenüber dem amerikanischen Newssender MSNBC befand er 2021 desillusioniert: «Die Finanzdienstleistungsbranche täuscht die amerikanische Öffentlichkeit mit umweltfreundlichen und nachhaltigen Anlagepraktiken». Eine «Ablenkung von der tatsächlichen Arbeit, den Klimawandel zu bekämpfen», schloss Fancy, der sich mittlerweile aus der Branche zurückgezogen und eine Non-Profit-Organisation gegründet hat, die sich für digitales Lernen in Gebieten mit limitiertem Internetzugang einsetzt.

Diese Ablenkung funktioniert aber noch aus einem weiteren Grund derart gut: Viele Lösungsansätze für den Klimawandel zielen auf eine Individualisierung der Verantwortung ab. Statt die Verursacher politisch in die Pflicht zu nehmen, passierte das Gegenteil. Ein berühmtes Beispiel: Die Idee des CO2-Fussabdrucks wurde nicht etwa durch eine Umweltorganisation popularisiert, sondern durch eine geschickte PR-Kampagne des Ölkonzerns BP. Das Ziel: Menschen sollen den Klimawandel als eine Amalgamation von Lifestyle-Entscheidungen wahrnehmen, also weg von den Institutionen und Konzernen hin zum Individuum. Das Individuum wird zum Agent des Wandels erhoben, während strukturelle und systemische Problemlösungen in den Hintergrund rücken. Das kann aus liberaler Sicht vordergründig als Ermächtigung des Individuums verstanden werden. In der Realität führt es hingegen zu Menschen, die ihr ganzes Leben nach dem Zero-Waste-Prinzip leben, selber Seife produzieren und Gewissensqualen erleiden, wenn sie eine Plastikpackung kaufen, während die Roche-Erbin Gigi Oeri im Jahr 2022 mit ihrem Privatjet 100 Mal nach Ibiza und 29 Mal an andere Orte geflogen ist und dabei 600 Tonnen CO2 ausgestossen hat. Das ist so viel CO2, wie der durchschnittliche Schweizer in gut 46 Jahren ausstösst.

Das Geschäft mit der Schuld

Statt also auf tatsächliche, kollektive und politische Lösungen zu setzen, belassen wir es dabei, auf Eigenverantwortung zu hoffen. Wenn immer auf Eigenverantwortung verwiesen wird, geschieht noch etwas Anderes. Es wird eine Entscheidung, präzise in jenem Moment vertagt, delegiert an eine andere, imaginierte Person, die an unserer Stelle dereinst handeln möge, an eine Gigi Oeri, die selbstverantwortlich 100 Mal nach Ibiza fliegt und das mit überzeugenden Notwendigkeiten begründen kann – denn in dieser Logik, ist das alles was zählt. Ein Ablasshandel nicht einmal materieller Art.

In einer komplett individualisierten Welt, in der jede Person sich nur selbst gerecht werden muss, gedeihen jene Teile unserer Psyche vorzüglich, die uns unbewusst bei der Selbsttäuschung helfen. Ein fantastisches Beispiel dafür liefert auch der slowenische Philosoph Slavoj Žižek. Er sieht den Menschen zu einem grösstenteils passiven Subjekt relegiert, gleich einem Fussballfan, der vor seinem Fernseher sitzt und sein Team anfeuert, obwohl das selbstverständlich nichts bringt. Sich diese eigene quasi-Impotenz einzugestehen wäre aber, so Žižek, für die Psyche zu traumatisch, also werde man zu «hektischer Aktivität» animiert, die schlussendlich bedeutungs- und wirkungslos ist. Genau jene Aktivität mache sich aber unsere Wirtschaft zunutze.

Dieses Phänomen, so der slowenische Philosoph, nehme gar längst eine «zentrale Rolle» in der Funktion unserer Wirtschaftsweise ein. So witzelt er über Starbucks: Die zentrale Message von Starbucks sei, der Kaffee sei zwar teurer als anderswo, dafür gehen mit jedem gekauften Kaffee bestimmte Geldbeträge an gute Zwecke. Die dieser Message zugrundeliegende Logik sei aber eine ganz andere, analysiert Žižek. Früher seien wir lediglich Konsumisten gewesen, hätten dann ein schlechtes Gewissen gekriegt und entschieden, etwas dagegen unternehmen zu müssen. Das Angebot von Starbucks passt perfekt – man könne genau so bleiben wie man ist.

«Wissen Sie, Ihre altruistische Natur, ihre Solidarität mit den Armen – das ist alles im Preis inklusive», witzelt Slavoj Žižek. Einen Kaffee trinken und mit jedem genüsslichen Schlückchen die Welt retten. Das, in Žižeks und in Fishers Denken, ist eines der grossen Phantasmen unserer Gesellschaft.

So oszilliert unser Verhältnis zum Klimawandel hin und her, von der Rolle als machtloser, passiver Beobachter zur Rolle des selbstverantwortlichen Retters. So persönlich uns unsere Rolle im Kampf gegen den Klimawandel scheint, so paradox unpersönlich wirkt sie manchmal, zum Beispiel, wenn gar nicht klar ist, für wen die neusten Handlungsempfehlungen gelten, und wessen Entschuldigung zählen, sich diesen zu entziehen. In diesem Oszillieren fehlt das Moment des Innehaltens. In dem wir reflektieren können, was diese beiden uns zugeschriebenen Rollen für uns, ganz intim, eigentlich bedeuten.

«Was die Katastrophe ausgelöst hat, wer weiss das schon; ihre Ursache liegt lange in der Vergangenheit, so absolut losgelöst von der Gegenwart, dass sie wie die Willkür eines bösartigen Wesens erscheint: ein negatives Wunder, ein Fluch, den keine Reue mildern kann», schreibt Mark Fisher über die Katastrophe, die, zu Beginn des Artikels, bereits geschieht. Er erhebt den Klimawandel, nicht zu Unrecht, auf die Stufe einer der grossen Kränkungen der Menschheit, die nicht nur technisch, nicht nur funktional überwunden werden muss – sondern auch psychisch.

Robin Schwarz

Redakteur Computerworld (CH)
Robin Schwarz arbeitet seit rund 15 Jahren im Journalismus. Er hat bei diversen Medien in diversen Positionen gearbeitet, war News- und Social-Media-Redaktor und in der Medienpolitik tätig. Publizistischer Schwerpunkt: Intersektion von Politik, Gesellschaft und Tech.