Trends & Analyse
Supercloud – Grenzübertritt mit Hindernissen
In der komplexen Gemengelage zwischen Public und Private Cloud, Hybrid- und Multi-Clouds verspricht das Konzept der Supercloud die Möglichkeit, Workloads nach Bedarf und Anforderungen zwischen Clouds verschieben zu können. Der ambitionierten Idee stehen allerdings in der Praxis verschiedene Hürden im Weg.
«Ich habe einen Traum», so lautet der Titel der wohl bekanntesten Rede von Martin Luther King, die er 1963 in der US-Bundeshauptstadt Washington hielt. Der amerikanische Bürgerrechtler beschwor darin eine Zukunft, in der Menschen aller Hauptfarbe über kulturelle und religiöse Unterschiede sowie Rassengrenzen hinweg friedlich miteinander leben. Einen ähnlichen Traum haben die Protagonisten der Supercloud. Auch sie wollen Grenzen überwinden, allerdings die zwischen den Cloud-Infrastrukturen unterschiedlicher Anbieter.
Forscher der Cornell-Universität in Ithaca (New York) haben bereits 2016 eine Definition einer Supercloud erarbeitet. Es handelt sich demnach um eine Cloud-Architektur, die eine Anwendungsmigration als Service über Verfügbarkeitszonen oder Cloud-Anbieter hinweg ermöglicht. Eine Supercloud könne private Clouds sowie die Infrastruktur aller grossen Public-Cloud-Anbieter wie Amazon Web Service, Microsoft Azure und die Google Cloud Platform einschliessen.
Den Nutzern soll diese Cloud erlauben, Virtual Machine ohne Neukonfiguration und Re-Synchronisierung der Anwendungen in ein beliebiges Cloud-Rechenzentrum zu verlagern. Unterstützt werden dabei Applikationen aus allen Cloud-Sparten, also IaaS (Infrastructure as a Service), SaaS (Software as a Service) und PaaS (Platform as a Service).
Abstraktionsebene über den Clouds
Für David Linthicum, Chief Cloud Strategy Officer beim Beratungsunternehmen Deloitte, liegt einer der Hauptvorteile einer Supercloud darin, dass Nutzer mehrerer Public Clouds nicht mehr für jede dieser Umgebungen eine anbieterspezifische Konfiguration vornehmen müssen. Das gilt insbesondere für die Security-Funktionen.
Dies ist nicht mehr nötig, weil eine Abstraktionsebene («Cross-Cloud Service Layer») implementiert wird – in Verbindung mit Automatisierungsfunktionen und Application Programming Interfaces (APIs). Diese logische Ebene soll es Nutzer ermöglichen, Cloud-Ressourcen aller Anbieter und eigene Private Clouds zentral und Cloud-übergreifend zu verwalten.
«Die meisten Nutzer berichten, dass die Verwaltung des gesamten Anwendungsportfolios über verschiedene Clouds hinweg schwierig und teuer ist.»
Zu den wichtigsten Vorteilen einer Supercloud zählen laut Deloitte:
- Es stehen Betriebsdienste zur Verfügung, die sich über eine einheitliche Schnittstelle und in konsistenter Weise bei allen Cloud-Serviceprovidern nutzen lassen. Zu diesen Services zählen Gateways, Broker, Transformations- und Konfigurationsprozesse sowie die Automatisierung von Workflows.
- Es ist ein einheitliches Management für Anwendungen, Services, Infrastruktur-Ressourcen und Netzwerke verfügbar.
- Gleiches gilt für eine Cloud-übergreifende Orchestrierung, einschliesslich der Verwaltung von Software-Containern.
- Der Zugriff auf DevOps-Dienste ist möglich.
- Es sind Funktionen wie Monitoring, IT-Security und Observability vorhanden, in Verbindung mit Technologien wie Künstlicher Intelligenz und Maschinellem Lernen.
- Nutzer haben Zugang zu Diensten für die Integration, Orchestrierung und Verwaltung von Daten.
- Es gibt ein gemeinsam genutztes Schema und Speicherressourcen, die sich für Analysen und Optimierungen heranziehen lassen.
Beispiel: Oracle - Datenbanken für Microsoft-Azure-User
Auch Oracle hat mit Oracle Interconnect for Microsoft Azure eine Supercloud-Lösung entwickelt. Sie macht Cloud-basierte Datenbankdienste von Oracle, etwa den Oracle Exadata Database Service und die Autonomous Database, den Nutzern von Microsoft Azure zugänglich.
Die Lösung bietet Latenzzeiten von weniger als 2 Millisekunden. Der Managed Service übernimmt Primitives (grundlegende Datentypen oder Code-Segmente) von Azure und übersetzt sie in Aktionen, die von der Oracle Cloud Infrastructure (OCI) ausgeführt werden. Die Interaktion zwischen beiden Clouds wird über eine Multi-Cloud-Kontrollebene gesteuert.
Raus aus dem «Cloud-Chaos»
Ein Punkt, der die Idee einer Supercloud attraktiv erscheinen lässt, sind die Erfahrungen, die Nutzer mit Multi-Clouds machen. Laut der Studie «Swiss IT 2023" von Computerworld IDC nutzen in der Schweiz rund 13 Prozent der Unternehmen parallel Cloud-Dienste mehrerer Anbieter. Dieser Wert dürfte in Zukunft weiter ansteigen. Als potenzielle Nutzer einer Supercloud kommen zusätzlich Unternehmen in Betracht, die eine Hybrid Cloud betreiben, bei der Public-Cloud-Dienste mit hauseigenen IT-Ressourcen oder Private Clouds kombiniert werden.
«Sowohl aus Sicht der Anwender als auch von Unternehmen ist die Supercloud ein spannendes Thema.»
«Der Wunsch nach einer Cloud-Architektur, die einfacher und variabler zu verwalten ist als gängige Multi Clouds, ist in jedem Fall vorhanden», sagt Björn Brundert, Principal Technologist im Office of the Chief Technology Officer bei VMware. «Die grössere Cloud-Auswahl hat zu einem massiven Anstieg der Komplexität geführt. Die meisten Nutzer berichten, dass die Entwicklung neuer Anwendungen viel Zeit und Mühe erfordert und dass die Verwaltung ihres gesamten Anwendungsportfolios über verschiedene Clouds hinweg schwierig und teuer ist.»
An die 70 Prozent der Unternehmen erleben laut Brundert derzeit dieses «Cloud Chaos» wie VMware im Rahmen einer Analyse festgestellt hat. Multi-Cloud-Anwender sehen sich Brundert zufolge mit Problemen konfrontiert wie einer mangelnden Konsistenz, etwa bedingt durch unterschiedliche APIs und Services. Hinzu kommt, dass sie Spezialteams für jede Cloud aufbauen müssen. Ausserdem ist es erforderlich, für jede Cloud Funktionen neu zu implementieren, etwa in Bereichen wie Kostenmanagement und Security.
Pragmatische Ansätze
Ein weiteres Argument für eine optimierte Zusammenarbeit der diversen Cloud-Ansätze führt Adam Karon an, Chief Operation Office und General Manager der Cloud Technology Group von Akamai: «Das traditionelle lokale Zonenmodell ist nicht für die verteilten Anforderungen moderner Workloads ausgelegt.» Das ist jedoch wichtig, weil Unternehmen ihren Kunden ein immer besseres Erlebnis bieten müssen, gleich ob es sich um einen Videostreaming-Dienst oder Onlineshop handelt. «Das bedeutet, dass Anbieter Workloads näher zu ihren Nutzern bringen müssen. Dies wiederum erfordert einen grundlegend neuen Ansatz für die Bereitstellung und Ausführung von Workloads», so Karon.
Doch wie tragfähig das Konzept einer Supercloud, Metacloud oder Multi-Cloud 2.0 ist, so einige der gängigen Bezeichnungen, ist umstritten. «Sowohl aus Sicher der Anwender als auch von Unternehmen ist die Supercloud ein spannendes Thema. Denn es dreht sich um die Frage, wie mehr Innovationen umgesetzt und neue Geschäftsfelder schneller und effizienter erschlossen werden können», sagt beispielsweise Hugo Bergmann, Product Marketing Manager Lyve Cloud und Data Services bei Seagate Technology. «Allerdings wird es an der Umsetzung hapern, weil die derzeitigen Cloud-Strukturen das Verschieben von Applikationen noch nicht zulassen und von Seiten der Cloud-Serviceprovider ein geringes kommerzielles Interesse daran besteht.»
«Solange Cloud-Serviceprovider ihre Kostenmodelle im Bereich Egress, also dem Datentransfer aus einer Cloud hinaus, beibehalten, ist es für Nutzer vorteilhafter, Daten in einer einzelnen Cloud zu speichern.»
John Gonsalves, Principal Field Evangelist bei Aviatrix, einem Spezialisten von Cloud-Security-Diensten, wiederum räumt einer Supercloud gute Chancen ein. Seiner Ansicht nach enthalten bereits heutige Multi-Cloud-Umgebungen Elemente, die sich mit einer Abstraktionsebene (Overlay) vergleichen lassen, die auch Supercloud einführen wollen.
«So bietet beispielsweise eine sichere Multi-Cloud-Netzwerkarchitektur eine einzige, von Public Clouds unabhängige Netzwerkplattform. Diese verbindet verschiedene Cloud-Computing-Modelle sowohl innerhalb der Public Clouds als auch mit hybriden On-Premises-Infrastrukturen über Grenzen hinweg. Meiner Meinung nach ist dies eines der fortschrittlichsten Rädchen im Getriebe der Supercloud», so Gonsalves.
Doch um eine tragfähige Supercloud einzurichten, müssen etliche Hürden überwunden werden. «Solange Cloud-Serviceprovider ihre Kostenmodelle im Bereich Egress [Datentransfer aus einer Cloud hinaus, d. Red.] beibehalten, ist es für Nutzer vorteilhafter, Daten in einer einzelnen Cloud zu speichern», erläutert Calvin Hsu, Vice President Product Marketing bei Citrix. «Außerdem liegt es nicht im Interesse eines Cloud-Hyperscalers, dass sich eine Supercloud zwischen ihn und seine Kunden stellt.» Zu berücksichtigen ist ausserdem, dass eine Abstrahierungsschicht, wie sie eine Supercloud benötigt, nur einen kleinsten gemeinsamen Nenner an Funktionen bieten kann. Ständig neue Funktionen zu integrieren, wie dies die grossen Cloud-Serviceprovider tun, ist Hsu zufolge bei einer Supercloud nicht im selben Mass und Tempo möglich.
Beispiel: Walmart - Supercloud Marke Eigenbau
Dass der Traum einer Supercloud trotzdem kein solcher bleiben muss, zeigt die Supermarkt-Kette Walmart in den USA. Sie hat mit der Walmart Cloud Native Platform (WCNP) eine Cloud-Plattform auf Basis von Kubernetes entwickelt, die sich am Supercloud-Modell orientiert.
Mit Kubernetes lassen sich Anwendungen verwalten, die in Software-Containern bereitgestellt werden. Walmarts Cloud-Umgebung basiert auf einer Private Cloud in Verbindung mit Public-Cloud-Services von Microsofts Plattform Azure und der Google Cloud Platform (GCP).
Mithilfe von Kubernetes lassen sich sogenannte «stateless» (zustandlose) Workloads von den Abhängigkeiten lösen, die durch die Cloud-Umgebung der Cloud-Serviceprovider entstehen. Diese Applikationen und die dazugehörigen Daten verlagert Walmart nach Bedarf zwischen der Private Cloud, Microsoft Azure und der GCP.
Eine Schlüsselfunktion von WCNP stammt vom Open-Source-System Kubernetes, so Walmart: die Fähigkeit, dass sich Services selbstständig erkennen und miteinander verbinden. Das Resultat ist eine maschenförmige Struktur von Diensten (Service Mesh).
Derzeit arbeitet Walmart daran, die Zuordnung von Workloads zu bestimmten Cloud-Ressourcen zu automatisieren. Walmart nutzt seine WCNP vor allem dazu, um die Software-Entwicklung zu beschleunigen, etwa mittels DevOps-Methoden und CI/CD-Pipelines (Continuous Integration / Continuous Delivery).
Auf dem Weg zur «smarten Cloud»
Bis eine Supercloud verfügbar ist, benötigten Nutzer pragmatische Lösungen, um mit der Komplexität von Multi-Cloud-Umgebungen klar zu kommen. «Ein möglicher Lösungsansatz ist, die Daten in die zentrale Funktion einer Supercloud zu stellen und ein Data-Mesh-Netzwerk aufzubauen», sagt beispielsweise Hugo Bergmann von Seagate Technology. Die Daten können sich im privaten Rechenzentrum und einer Public oder Hybrid Cloud befinden. Sie bilden einen Data Lake, der sich wiederum an Cloud-Services anbinden lässt.
Mit Seagate Lyve Cloud bietet das Unternehmen einen S3-kompatiblen Cloud-Datenspeicherdienst an, bei dem keine Egress-Gebühren anfallen. «Ein Kunde zahlt nur für die genutzte Speicherkapazität. Daten können ohne weitere Kosten zu andere CSPs transferiert werden», so Bergmann weiter. Damit sich solche Daten effizient nutzen lassen, sei es jedoch nötig, Datensilos aufzulösen, etwa mithilfe eines Global File System (GFS). «Dann können Nutzer lokale und Cloud-basierte Daten-Repositories integrieren und mit Analyse-Tools die Speicherkosten senken.»
«Die Supercloud wird kommen, ist aber möglicherweise noch nicht für alle erforderlichen Infrastrukturelemente ausgereift.»
Der Ansatz von Seagate fokussiert sich auf die Bereitstellung von Daten. VMware propagiert wiederum im Rahmen seiner «VMware Cross-Cloud-Services» den Ansatz «Cloud Smart», eine Weiterentwicklung der Multi Cloud. «Das Ziel dieser Cross-Cloud Services ist es, eine konsistente Plattform über die unterschiedlichen Clouds bereitzustellen», erläutert Brundert.
Für die Entwicklung beziehungsweise Modernisierung von Anwendungen kommt beispielsweise mit VMware Tanzu eine zentrale Applikationsplattform auf Basis von Kubernetes zum Einsatz. Für das Management und den Betrieb von Cloud-Infrastrukturen und Multi-Clouds ist die Plattform VMware Aria zuständig. Hinzu kommen Lösungen für das Datenmanagement und die Bereitstellung von Cloud-Infrastrukturen.
Workloads näher um Nutzer bringen
Einen anderen Weg beschreitet Akamai, ein Anbieter von Content Delivery Networks (CDN). Das Unternehmen versteht sich nicht als Konkurrent von AWS, Microsoft, Google und Co., und auch nicht als «Supercloud-Provider». Vielmehr stellt Akamai mit der Connected Cloud Nutzern eine alternative Cloud-Umgebung zur Verfügung, die hohe Anforderungen an die Dienstgüte und Performance einer Cloud-Infrastruktur stellen.
«Was wir anbieten, ist ein differenzierter Ansatz, der die aktuellen und künftigen Anforderungen unserer Kunden widerspiegelt», sagt Adam Karon. «Diese Anforderungen machen eine neue Sichtweise auf das derzeitige, zentralisierte Cloud-Modell für Rechenzentren notwendig. Daher fügen wir Core- und Distributed-Computing-Standorte zu unserem weltweiten Edge-Netzwerk hinzu.» Die Edge-Plattform, die das Herzstück der Connected Cloud darstellt, stellt Funktionen wie ein Failover, Caching und einen Lastausgleich bereit. «Sie funktioniert sogar unabhängig davon, wo sich die Workload befindet, in einer beliebigen Cloud oder vor Ort», unterstreicht Karon.
Die Hyperscaler üben Zurückhaltung
Eine ganze Reihe von Unternehmen, die laut Marktforschungsfirmen wie Enterprise Technology Research (ETR) auf dem Weg zu Supercloud-Lösungen sind, bieten Datenmanagement-Services und datenbezogene Cloud-Diensten an. Dazu zählen NetApp, Seagate, Cohesity und VMware. Auch Snowflake und Databricks mit ihren Cloud-Datenplattformen und Data-Protection-Spezialisten wie Veeam und Palo Alto Networks gehen in die Richtung Super- oder Meta-Cloud.
Es bleibt die Frage, wie die führenden Cloud-Serviceprovider wie AWS, Microsoft oder Google zu dem Thema stehen. Doch diese halten sich weitgehend bedeckt, auch wenn sich beispielsweise die Forschungsabteilung von Microsoft bereits vor sieben Jahren mit dem Thema beschäftigt hat, zusammen mit Fachleuten der Cornell University.
Diese Haltung ist nicht verwunderlich: «Cloud-Serviceproviderhaben angesichts ihrer aktuellen Geschäftsmodelle nur ein geringes Interesse, ein Supercloud-Modell umzusetzen. Jeder Anbieter möchte seine Kunden behalten und bindet sie daher stark in seine Cloud ein», sagt Hugo Bergmann von Seagate. «Eine offene Cloudstruktur, wie sie die Supercloud erfordert, ist daher schwer umzusetzen.»
Fazit & Ausblick
Die Beispiele Walmart sowie Oracle und Microsoft zeigen, dass es machbar ist, die Verknüpfung von Clouds für Nutzer einfacher zu gestalten, als dies bei den gängigen Multi-Cloud-Umgebungen der Fall ist. Dennoch liegen Wunsch und Wirklichkeit bei der Supercloud noch weit auseinander.
Das hat technische, organisatorische und wirtschaftliche Gründe. So müssen standardisierte Verfahren für eine Verknüpfung von Cloud-Umgebungen entwickelt und von den Cloud-Serviceprovidern sowie den Nutzern implementiert werden. Doch das setzt voraus, dass sich die Provider auf solche Standards einigen. Die Motivation, dies zu tun, dürfte minimal sein – zumindest solange sich Anwender mit dem Status quo arrangieren, also Multi Clouds und dem damit verbundenen Managementaufwand.
Zu berücksichtigen ist ausserdem, dass sich eine Supercloud für alle lohnen muss: die Cloud-Nutzer, die Anbieter, die ihre Software und Lösungen über Public Clouds vermarkten und die Cloud-Serviceprovider. Und das ist bislang nicht gegeben. «Eine Supercloud, die allein der Aggregation von Clouds dient, wird sich auf absehbare Zeit mit einem starkem Gegenwind konfrontiert sehen», resümiert daher Calvin Hsu von Citrix.